Unterhaltung

Ein Mini-Adler namens Sämi

«Hui, der Vogel sieht ja aus wie ein Adler», rief Mutter. Bewaffnet mit Kern-Fernglas stand sie auf dem Balkon und beobachtete den kleinen, gelbbraunen Vogel. Der Kommentar zu den Beobachtungen auf der Wiese liess nicht lange auf sich warten.

 

 

Vater übernahm die Rolle des Tierli-Moser’s und meinte schmunzelnd, der Adler sei im Mittelland äusserst selten anzutreffen. Keines dieser Tiere verirre oder verfliege sich in den Kanton Aargau. Denn Adler jagen Mäuse, keine Rüeblitorten. Er schaue sich den Vogel mal aus der Nähe an, sprach er. Verliess die Wohnung im 3. Obergeschoss. Wir Kinder, also ich und meine ältere Schwester verfolgten gebannt das Schauspiel vom Balkon unserer Wohnung. Minuten später näherte sich Vater vorsichtig dem kleinen Piepmatz. «Es ist kein Wellensittich, eher ein Kanarienvogel», rief er in unsere Richtung. So begann die Geschichte von Sämi Ende der 70er-Jahre im Goldernquartier in Aarau. Die Gründe seiner Flucht blieben im Dunkeln. Niemand wusste, woher er kam. Wann er ausbüxte. Oder die Anzahl Lenze, die er unter seinem Federkleid trug. Auch rätselten wir über sein Geschlecht. Und keiner vermisste den kleinen Sänger.

Ich bin gut zu Vögeln

Der Entscheid fiel schnell: Die Mission «Vogelrettung» sollte starten. Eine Nachbarin aus unserem Wohnblock am Gönhardwald stellte einen Vogelkäfig zur Verfügung. Und Vater schaffte es, den gelbbraun-gesprenkelten Federfreund in den Käfig zu befördern. Trotz des Unwissens über sein wahres Geschlecht tauften wir ihn auf den Namen Sämi. Wie lange es der Vogel in der freien Wildbahn ausgehalten hätte, weiss auch keiner. Vermutlich hätte sein Leben bald ein Ende gefunden, wäre er weiter auf der grünen Wiese herumspaziert. Denn die Miezekatzen lauerten öfters in den Büschen um den Wohnblock. Machten fette Beute. Die Freude bei den fliegenden Sängern hielt sich logischerweise in Grenzen. Einzig die Jäger der Gefiederten dachten sich, sie täten ihren Opfers Gutes mit dem Spruch: Ich bin gut zu Vögeln.

 

Sämi brauchte nichts Böses in seiner neuen Familie befürchten. Der Kanarienvogel genoss Aufmerksamkeit. Nicht nur Vogelfutter, ebenso Grünfutter und Obst gehörten als Bestandteil zum Speiseplan. Am Boden seines Käfigs lag immer eine Schicht Sand, die dem Piepmatz half, seine Nahrung zu verdauen. Seine Behausung wurde regelmässig gereinigt. Mit neuen Ästen ausgestattet. Und um seinen Schnabel zu wetzen, hing ein Sepiasschulp an den Gitterstäben. Und während der Nacht sorgte ein Tuch auf seiner Behausung für Nachtruhe.

Gesangs-Duell mit dem Staubsauger

Und obwohl das Tierschutz-Gesetz dazumal nicht vehement Volièren-Haltung mit Möglichkeiten für Kontakte zu Artgenossen forderte, dünkte es mich, unser Haustier litt nicht unter seinem Single-Status. Sämi war happy. Er liebte das Baden in seiner Vogelbadewanne. Pflotschte und schwaderte im kühlen Nass wie eine Ente. Und während wir sein Käfig reinigten, unternahm er einen Rundflug durch unsere Wohnung. Düste Mutter mit dem Nilfisk-Staubsauger durch Flur und Wohnzimmer, lieferte er sich mit dem eierförmigen Metall-Monster ein Gesangs-Duell. Zwitscherte insbrünstig seine Melodien. Hätte ein Komponist die Vogelstimme in Musiknoten festgehalten und mit der entsprechenden Dynamik versehen, stünde auf dem Notenblatt von oben bis unten ein ff. fortefortissimo. Trotz seines energischen Gezwitschers füllte Sämi sein Konto mit Sympathiepunkten. Hinterliess bei uns ein Schmunzeln, während er sich in unsere Herzen  sang. Opernsänger, Rockmusiker und Co. hätten gleich einpacken können. Wer würde es je wagen, gegen diese Kategorie der lärmenden Monster aus der Haushaltsgilde anzutreten? Keiner, würde ich sagen. Ausser Sämi, der Kanarienvogel.

 

Die Jahre zogen ins Land, der Sänger entwickelte sich zum Senior. Wurde älter. Schwächer. Und reduzierte seine Gesangstätigkeit drastisch. Keiner wusste, wie alt er wirklich war. Vor seinem Ableben sass er nur noch am Boden seines Käfigs.  Glücklicherweise musste er nicht lange leiden. Nach mehr als 12 Jahren der Familienbereicherung starb unser gefiederter Freund. Wir trauerten um Sämi, seine letzte Ruhe fand er in unserem Garten. Wo er bei seinem Flug in den Himmel wohl davon träumte, ein Adler zu sein.

 

 

 

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