Die Frau, die sich in das Zugabteil setzt, geht mit höchster Wahrscheinlichkeit auf zwei linken Füssen durchs Leben. Zumindest an diesem dreiundzwanzigsten Tag des Februars.
Anstelle von «Guten Tag, ist hier noch frei» lässt sie sich wortlos auf den Sitz vis à vis von mir plumpsen. So nach dem Motto: Hier bin ich. Und bleibe. Nun gut, Anstand oder Manieren fehlen bei gewissen Personen im Vokabular. Und in ihrem Verhalten. Eigentlich kann es mir ja egal sein, was um mich herum passiert, denke ich mir. Solange es mich nicht direkt als Person tangiert.
Ich fühle mich entspannt. Nach einer Woche Winterferien im Goms mit Aktivitäten wie Langlauf, Winterwandern, Fotografieren freue ich mich auf eine gemütliche Heimreise. Die Sitzplätze sind moderat gefüllt. Ich sitze im Zug von Brig Richtung Romanshorn. Mein Platz befindet sich ganz vorne. Neben dem Gepäckabteil. Auf dem Sitz neben mir liegt mein Rucksack, eine Halbliterflasche mit Wasser. Das Mandarinli und einige Blevita-Cracker ruhen auf dem schmalen Tischchen. Das MAC Book liegt auf meinen Oberschenkeln. Aufgeklappt. Ich möchte an einem Text weiterarbeiten. Der Zug fährt los. Verlässt den Bahnhof Brig. Ich beginne zu schreiben. Tippe in Windeseile auf der Tastatur herum. Meine Sitznachbarin mit korpulenter Statur findet dies ziemlich doof. Sie schenkt mir einen Blick, der mich schier tot in den Sessel sinken lässt. «Meinen Sie nicht auch, es wäre jetzt besser, aus dem Fenster zu schauen und die Landschaft zu betrachten? Anstatt auf ihrem Computer herumzutippen?» fragt sie mich mit herausfordernder Stimme. Oha. Mein Gegenüber scheint sich den verbalen Kick zu suchen. Oder wünscht sich Aufmerksamkeit. Will mich in ein Gespräch verwickeln. Ich komme mir vor wie im Sketch «Flug nach Milano» vom Cabaret Rotstift, wo sich der Mann ohne Flugerfahrung neben den erfahrenen Vielflieger, einen Geschäftsmann setzt. Er studiert die Börsenkurse in der Zeitung. Und der trottelige Nullmeilenflugpassagier seinen Sitznachbarn fragt: «Müend sie eigentlich immer läse? Was läse sie do immer?»
Unter normalen Bedingungen betrachte mich als angenehme Gesprächspartnerin. Wenn das Gegenüber passt. Diese Szene hier ähnelt einem Speed-Dating, wo das Vis à Vis bereits mit der ersten Frage alles zerstört. Natürlich könnte ich eine Riesenszene veranstalten. Ziemlich laut werden. Es macht aber viel mehr Spass, das streitsuchende Gegenüber mit Freundlichkeit und einer Prise Witz zu strafen. Das wirkt nachhaltiger. Und funktioniert so: Setz ein freundliches Lächeln auf, pack den Blick aus, der zum Knieschlottern einlädt und antworte mit Charme. So entgegne ich ihr, mit Stockzahngrinsen und beiläufigem Tonfall:« Wissen Sie, wenn ich mehrere Stunden im Zug unterwegs bin, habe ich immer noch genügend Zeit, die Landschaft zu betrachten.» Zack, es herrscht Funkstille. Und wenige Sekunden später erreicht der Zug den Lötschberg-Tunnel. Die Landschaft draussen sagt tschüss. Draussen gibt es nix zu beäugen und ich habe null Bock, zusätzlich schwarze Löcher in den Tunnel zu starren. Ich entscheide mich, diese Story, die bei mir anklopft, aufzuschreiben. Freizeitjournalismus am Puls des Geschehens. Hei, das wird ein Spass.
15 Kilometer später saust der Zug ans Tageslicht und mein Gegenüber versucht es mit einem neuen Anlauf das meterdicke Eis zu brechen. Dieses Mal mit einer Prise mehr Freundlichkeit. Sie wählt sich als Einstiegsthema «das Wetter» aus. Sie startet mit der Aussage: «ich glaube, das Wetter könnte sich in den nächsten Tagen ändern.» Nun, da muss ich ihr Recht geben. Die Chancen liegen in diesem Fall bei 50%, denke ich mit einem Schmunzeln. «Bis anfangs nächster Woche gibt es noch keinen Regen,» antworte ich ihr seelenruhig und beginne mein Mandarinli zu schälen. Die Aktion mit der orangen Frucht bringt neben Vitamin C für mich ebenso eine Entschleunigung in unsere Unterhaltung. Heisst: Tempo rausnehmen und den Redefluss des Gesprächspartners im Zaum halten.
Dazu erhalte ich Schützenhilfe der Schweizerischen Bundesbahn. Der Zug hält in Spiez und handelt sich eine Verspätung ein. Weshalb weiss keiner. Jedenfalls rutscht nun meine Sitznachbarin unruhig auf ihrem Sessel hin und her. Reckt den Kopf und blickt genervt durch den Waggon. Irgendwo im hinteren Teil des Waggons beschallt ein Handy die Passagiere mit lauter Musik. Ich geniesse die passive Zeit des Zuges. Der IC 8 steht immer noch im Bahnhof über dem Thunersee. «Wieso sagt niemand, wieso wir hier warten?» fragt mich die Frau. «Wahrscheinlich müssen wir einen Gegenzug abwarten, wenn es eine minimale Verspätung gibt, wird nicht immer informiert, » antworte ich ihr. Meine Worte verhallen. Und siehe da: Der Zug setzt sich in Bewegung.
Mit der Weiterfahrt bricht meine Sitznachbarin in Begeisterung aus kommentiert dies freudig mit den Worten: « Jetzt fährt der Zug wieder, das dauerte jetzt eine Ewigkeit,» meint sie. Ich ziehe mein nächstes Register. Insgeheim wünsche ich ihr, sie hätte beim nächsten Halt in Thun ein paar Bekannte, die sie treffen möchte. Oder plant einen Einkaufsbummel. Also antworte ich ihr: «Vergleicht man diese Verspätung mit der erdgeschichtlichen Entwicklung, betrachte ich dieses Geschehnis als Pipifax, das wir soeben erlebten.» Etwas verdattert über meinen verbalen Konter plant sie gedanklich den Rückzug. Sie greift sich ihre Tasche, erhebt sich schweigend und läuft nach hinten durch den Waggon. Und setzt sich ins hinterste Abteil. Im Fussball wäre dies ein Forfait-Sieg. 3:0 für mich. Eine Mitreisende im Zweiersessel nebenan beobachtet diese Szenerie seit dem Halt in Spiez. Sie schüttelt den Kopf und murmelt: «Was hett ächt die fürnes Problem gha?» Wahrscheinlich sind es mehrere Dinge, die sie lösen möchte. Und erzähle meiner Nachbarin im Abteil neben mir die Geschichte. Wir schmunzeln beide. Und hoffen, die Frau möge dem nächsten Sitznachbarn im Zug etwas freundlicher begegnen.
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