«So ein Kuhpflätter,» muhte Lisa frustriert. Wie jedes Jahr zog der Winter ins Land. Und sie, eine ausgewachsene Simmentaler Kuh stand am Nikolaustag im Stall von Bauer Müller. Draussen lag Schnee.
Die weisse Pracht verwandelte die Gegend um Zellberg in eine zauberhafte Winterlandschaft. Lisa hasste die kalte Jahreszeit. «Was soll ich den ganzen Winter hier im Stall stehen?» jammerte sie. Ihre Freundin Ursi antwortete: «Lisa, lass den Kopf nicht hängen. Freu Dich auf die Weihnachtszeit, das Fest der Liebe. Tu es für Deine Tochter Flora,» mahnte Ursi ihre Freundin am Futtertrog.
Lisa wollte eine gute Mutter sein und die Talentförderung ihrer Tochter selber in die Hand nehmen. Und Flora einen Auftritt am Dorf-Krippenspiel ermöglichen. Nebst dem Herumtollen mit anderen Kälbern schade es nicht, etwas Lebenserfahrung und Selbstvertrauen zu tanken, dachte Lisa. Das Krippenspiel fand jährlich am 4. Advent statt. Auf dem Hof von Ueli Müller. Kalb Flora würde als tierische Schauspielerin im Mittelpunkt stehen. Dafür würde Mutter Lisa sorgen. Sie beschützen. Egal, was geschieht.
Die Proben zum Krippenspiel verlaufen ohne Probleme. Alles funktioniert wie geplant. Frau Hasler hat die Rolle des Sterns von Bethlehem inne. Die Kindergartentante trägt ein goldenes Cape mit Sternenmuster. Auf ihrem Kopf glänzt ein Hut, ebenfalls mit unzähligen Sternen verziert. Die Kindergartenzwerge tippeln als Sterne verkleidet hinter Frau Hasler her. Gemeinsam tragen sie den Schleier, der Schweif des Sterns von Bethlehem.
Die Primarschüler treten als Engelschor und Schafhirten auf. Den Part der heiligen drei Könige gehört den Lehrpersonen Heinz Weber, Urs Huber und Andreas Stähli. Doch drei Könige ohne Kamel ähneln Nomaden, denen das Fortbewegungsmittel fehlt. Pfarrer Lauber als Gesamtleiter des Krippenspiels setzt alle Hebel in Bewegung, um den Zuschauern drei echte Wüstenschiffe zu präsentieren. Scheitert kläglich. Zum Glück springt Fritz Bischof, ein Alpaka-Züchter aus der Nachbargemeinde in die Bresche. Er stellt als Transportmittel für die Könige drei seiner Tiere zur Verfügung. Halt ohne Kamelhöcker. «Na ja, zur Not frisst der Teufel Fliegen,» murmelt Pfarrer Lauber leise vor sich. Und willigt ein.
Nun gilt es, die Tiere auszuwählen, die im Krippenspiel mitwirken. Die Selektion von Bauer Ueli Müller sorgt bei den Tieren im Stall für heftige Diskussionen und Gelächter. «Stellt Euch vor, Flora übernimmt die Rolle des Jesuskindes im Stall,» behauptet Kuh Ursi aufgeregt. «Ein Kalb in der Krippe? Das wäre ja was ganz Neues.» ruft Leila, eine Boxennachbarin von Ursi. «Lisa als Mutter will natürlich die weibliche Rolle des Ochsen übernehmen, um ihr Kind zu beschützen. Da müsste Fredu den Part des Esels spielen. Der ist garantiert stinksauer.» Nun meldet sich Rind Sophie kichernd zu Wort. «Hahaha, Onkel Fredu – ein Esel! Das klingt so, als würde der Landwirtschaftsminister einen Kurs als Nachrichtensprecher besuchen,» witzelt sie.
Das Geschwafel des Teenager-Rinds verschwindet im Gepolter aus dem hinteren Teil des Stalls. Muni Fredu stampft wütend von einem Bein aufs andere und brüllt: «Wieso soll ich ausgerechnet den Esel spielen? Ich, ein stolzer Muni. Stark wie ein Ochse, stolz wie ein Löwe. Ich lass mich doch nicht zum Grautier mit vier Buchstaben degradieren. Mein Charisma ins Gülleloch schmeissen. Spinnt ihr denn alle?»
«Fredu, mein Schatz,» flötet Lisa beschwichtigend, «lass uns doch als Familie diese Rollen übernehmen. Ich beschütze als weiblicher Ochse unsere Tochter. Klar verlangt es Anpassungsfähigkeit und Flexibilität von Deiner Seite, den Esel darzustellen. Es würde uns als Familie noch mehr zusammenschweissen. Glaube mir, Fredu. Du zerplatzt vor Stolz auf deine Tochter.»
So geschieht Folgendes am vierten Advent: Die Schafhirten bewachen ihre Tiere. Erwarten auf der Wiese die frohe Botschaft. Der Engelschor verkündet singend, in weissen Skianzügen die Geburt von Gottes Sohn: «Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frauen. Kommet das liebliche Jesuskindlein anschaun.» So machen sich die Hirten auf den Weg. Frau Hasler führt als Stern von Bethlehem die Gruppe an. Später stehen alle vor dem Bauernhof von Ueli Müller. Ebenso die drei heiligen Könige mit ihren Alpakas. König Melchior alias Lehrer Huber öffnet die Stalltüre. Im Innern liegen auf Stroh gebettet, Kuh Lisa. Sowie Muni Fredu, verkleidet als überproportionierter Esel. Auf seinen Hörnern stecken Eselsohren aus Karton, die Felix, der Sohn von Ueli gebastelt hat. Und anstelle der Krippe liegt ein Heuballen in der Mitte, dessen Heu Kalb Flora genüsslich verspeist. «Wo sind denn Maria, Josef und das Jesuskind?» fragt König Melchior verwundert. «Sie warten am Imbissstand, um eine warme Mahlzeit zu kaufen,» ruft der kleine Felix vorwitzig.
Heiteres Gelächter der Zuschauer erhellt die dunkle Adventsnacht. Später erfreuen sich alle bei Mehlsuppe, Punsch und Lebkuchen über das Familienglück von Maria und Josef. Und Kuh Lisa mit Fredu dem Muni über die erste Schauspielrolle ihrer Tochter Flora.
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